Widerstand muss nicht immer lautstark sein. Es geht auch still, aber nicht minder wirksam. Davon kann der Landwirt Josef Rainer aus dem Villgratental ein leises Lied singen. Ein Lied über ein scheinbar unverfängliches Willkommen, das am Balkon des Bauernhauses in Innervillgraten weithin sichtbar ist. In Osttirol nennen ihn die Menschen den „Grüß-Gott-Bauer“.
In der Küche duftet es nach Rindfleischsuppe. Im großen Edelstahltopf auf dem Herd kocht es leise. Lauch, Sellerie, Karotten und ein Stück Rindfleisch schwimmen in der Suppe. Josef Rainer sitzt mit seiner Frau Notburga auf der Holzbank neben dem Herd. Sie lächeln und sagen „Grüß Gott“. Was normalerweise als herzliches Willkommen gilt, mutierte vor vielen Jahren zur Kampfansage.
Österreichweit die niedrigste Zustimmung zum „Anschluss“
Frühjahr 1938. Die Nazis sind in Deutschland an der Macht. Adolf Hitler gliedert Österreich in das Deutsche Reich ein. Nationalsozialisten feiern das als „Heim ins Reich.“ Überall in den neuen Gebieten sollen nach dem Willen der NS-Schergen Hakenkreuzfahnen wehen. Auch in Innervillgraten. Doch zahlreiche Menschen im Osttiroler Tal machen nicht mit. Als sie im April 1938 über den „Anschluss“ abstimmen, wehrt sich ein gutes Viertel der Dorfbewohner aus Innervillgraten – so viel wie sonst nirgends im „Gau Kärnten“ und in ganz Österreich. Auch Josef Rainers Vater vom Außerlanshof lehnt den Anschluss ab und macht seinen Protest weithin sichtbar.

Statt eine Hakenkreuzfahne zu hissen, prangt eines Morgens ein frisch geschnitztes „Grüß Gott“ am Geländer des großen hölzernen Bauernhauses. „Mein Vater Josef konnte mit den Nazi-Parolen nichts anfangen“, flüstert Josef Rainer. „Sein christlich geprägtes Menschenbild verbot ihm das.“ Der heute 90-Jährige war damals sechs Jahre alt und eines von neun Kindern am Außerlanshof. Fast eineinhalb Jahre hat der „Grüß-Gott- Bauer“ seinerzeit gebraucht, bis er den vermeintlich harmlosen Schriftzug auf dem Balkon fertig hat. Josef Junior hilft ihm dabei. Nicht wissend, „was mein Vota da anstellte.“ Mit der Kirche wollten sich die Nazis offenbar nicht anlegen, schon gar nicht im Villgratental, „wo wir sehr gläubig sind.“ Doch seit dem Anschluss Österreichs durch die Nazis hat die Gestapo (Geheime Staatspolizei) den braven Landwirt im Visier. Immer wieder besuchen Männer in braunen Pumphosen oder langen dunkelbraunen Ledermänteln den Hof. Mehrmals heimlich.
Stiller Widerstand der Bergbauern
„Einmal saßen wir hier am Küchentisch. Der Vota unterhielt sich mit unserem Dorfpfarrer Anton Moling über die Geschehnisse im Großdeutschen Reich. Sie sahen das drohende Unheil. Da klapperte es draußen. Mein Vater ging hinaus, um nachzuschauen. Da stand ein ortsbekannter Nazi, der sein Ohr an die Fensterscheibe der Küche drückte. Hören, was der Protestbauer da wohl ausheckt.“ Die Reaktion meines Vaters war kurz, klar und eindeutig: „Schleich di.“ Ende des Lauschangriffs.
Dass die Nazis dem „Rainer Sepp“ nichts anhaben konnten, verdankt er ein Stück weit seiner Mitgliedschaft in der Freiwilligen Feuerwehr im Dorf. „Mein Vater war der Einzige, der sich mit der Motor-Spritze auskannte und sie bedienen konnte. Die NS-Schergen wussten das. Sie brauchten ihn, wenn es wieder mal lichterloh brannte.“ Das kam zum Glück nicht so häufig vor, selbst in den Kriegsjahren nicht. Seinen Widerstand gegen die Nazis hat der Grüß-Gott-Bauer nie eingestellt. Im Gegenteil: Der 1938 geborenen Tochter gab er bewusst den Namen der letzten österreichischen Kaiserin: Zita.
„Magst du was trinken?“, fragt Notburga Rainer. Sie rührt mit dem Kochlöffel im Suppentopf. Ihr Mann Josef winkt ab. Er nimmt das schwarze Fotoalbum zur Hand, blättert etwas versonnen, nimmt einen Stift und schreibt mit fester Hand. Kein Wackeln. Eher schwungvoll steht jetzt „Grüß Gott“ auf dem Papier.

Der Grüß-Gott-Bauer hat das Herz am richtigen Fleck
Josef, der mehr als ein halbes Jahrhundert lang in der Innervillgrater Musikkapelle mit seiner Trompete den Zuhörern auch oft den Marsch blies, schmunzelt. Er stützt seine Arme auf die Knie, erhebt sich und geht leicht gebeugt in die Stube. Zwischen den Fenstern hängt eine Urkunde für seine Verdienste für die Blasmusik an der Wand. Der alte Mann richtet sich auf und steht kerzengerade daneben. So beschreiben ihn die Menschen in Innervillgraten. „Immer aufrecht“, sagt etwa Alois Mühlmann, der Vorsitzende des Heimatpflegevereins. „Josef hat das Herz auf dem richtigen Fleck.“ Wie sein Vater, der 1981 im Alter von 89 Jahren starb.

Heute ist das hölzerne „Grüß Gott“ ein Blickfang für Gäste und Einheimische. Vielleicht auch ein zeitgeschichtliches Dokument und eine stille Mahnung. Laute Töne sind nicht die Sache von Josef Rainer. Es ist kurz nach 12 Uhr. Mittagszeit. In der Küche dampft die Rindsuppe. Draußen scheint die Sonne an diesem Oktobertag sommerlich warm. Josef und Notburga stehen vor ihrem Bauernhof. Fast schüchtern legt der 90-Jährige seinen rechten Arm um seine Frau. Die wachen Augen blitzen. Er richtet sich wieder auf. „Das habe ich wohl von meinem Vater geerbt.“ Der Mann hat Haltung.

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Was kann man da wohl sagen: Respekt, Respekt!
Lieber Theodor,
die Geschichte des Villgratentals und seiner Menschen ist eine ganz besondere, das finden wir auch! 😊
Das sind noch Menschen mit Herz ❤️ und Charakter, gratuliere
Liebe Marlies,
Diese Charakterstärke ist auch heute noch weithin sichtbar! Hast du den „Grüß-Gott-Balkon“ schon einmal gesehen? Falls nicht, wäre er doch ein toller Blickfang bei deinem nächsten Besuch im Villgratental! 😄